Vor 30 Jahren: Tschernobyl-Kinder in Gronau

Aus einer Ferienfreizeit wurde eine lebenslange Freundschaft
Wenn man etwas Gutes an der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl von 1986 sehen möchte, dann sind es wohl Freundschaften, die indirekt daraus erwachsen sind. 1993 wurde ein Projekt ins Leben gerufen, das Kinder aus dem verseuchten Großraum für eine Ferienfreizeit nach Gronau geholt hat.
Tschern01Vor 30 Jahren war Irina Isayenko (M.) erstmals zu Gast in Gronau. Damals hatten Hannelore Buchholz (l.) und Roswitha Kolhoff eine Ferienfreizeit für „Tschernobyl-Kinder“ organisiert.

Das „goldene M“ hat sich in Irina Isayenkos Erinnerungen gebrannt. Als sie 1993 zu Besuch nach Gronau kam, hatte sie von dem bekannten Schnellrestaurant bloß mal gehört. Nun durfte sie dort auch mal rein und etwas essen. Und generell hat sich damals eine ganz neue Welt für das Mädchen aus Weißrussland geöffnet. Sie ist eines der ersten sogenannten Tschernobyl-Kinder, die im Rahmen eines Erholungsurlaubs einige Wochen in der Dinkelstadt verbracht haben.
Die Sowjetunion war 1993 Geschichte, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 allerdings noch immer präsent. Knapp 200 Kilometer Luftlinie trennen den Reaktor und Rogatschew in Belarus, die Heimatstadt der heute 40-jährigen. Winde hatten die radioaktiven Stoffe in alle Himmelsrichtungen transportiert. In der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Gronau gab es damals einen Arbeitskreis Tschernobyl. „Der Bund der Gemeinden war an uns herangetreten und hatte uns gefragt, ob wir bereit wären, weißrussische Kinder für einige Wochen aufzunehmen“, erinnert sich Roswitha Kolhoff an die Anfrage der Dachorganisation. Die Gronauer waren es.
Der Grundgedanke hinter dem Projekt war, den Kindern aus den strahlenverseuchten Gebieten ein gesundes Klima und eine gesunde, vitaminreiche Ernährung zu bieten.
Auch außerhalb der kirchlichen Gemeinde gab es viel Unterstützung. Es war beinahe schon so etwas wie ein Event, dass die acht- bis 15-jährigen Kinder in der Stadt waren. „Es wurde Geld gespendet, um Ausflüge zu finanzieren, oder auch Kleidung. Das DRK hat auch sehr geholfen“. Blickt Roswitha Kolhoff auf die Besuche, die bis 2005 fünfmal stattgefunden haben. Zusammen mit Hannelore Buchholz war sie federführend in dem Projekt. Die 24 bis 36 Kinder waren jeweils zu zweit in Gastfamilien untergebracht, und zweimal pro Woche gab es Gruppenunternehmungen.
Für Irina Isayenko war der Blick in eine neue Welt eine Erfahrung, die sie niemals vergessen wird und prägend war: „Die Ferienfreizeit hat mein Leben verändert. Ich habe mich damals zum Beispiel entschlossen, Deutsch zu studieren,“ Sie erlernte die Sprache in ihrer Heimat und war später auch mal als Betreuerin der Gruppe wieder in Gronau. Somit blieb auch der Kontakt zu ihrer Gastmutter Roswitha Kolhoff, die übrigens auch mit dem zweiten Mädchen Julia Malschakowa noch regelmäßig schreibt.
„Irgendwann haben wir uns überlegt, dass es nicht ein kann, dass wir die Kinder niemals wiedersehen. Also haben wir uns entschlossen, sie in ihrer Heimat zu besuchen“, sagt Roswitha Kolhoff. Den Gronauern wurde eine Menge Hilfsgüter mitgegeben. Mit dem Zug ging es nach Rogatschew. Eine 38-stündige Fahrt, die nicht gerade komfortabel war. Es blieb aber nicht beim einmaligen Besuch, im Gegenteil, sagt Roswitha Kolhoff: „Beim ersten Besuch haben wir vor Ort gesehen, wie groß die Not ist.“
Daraus erwuchs ein regelmäßiger Hilfstransport, der zwischen 1993 und 2003 Gronauer Spenden von Firmen und Privatleuten, sowie medizinische Gerätschaften nach Weißrussland und nach Kiew gebracht und vor Ort an bedürftigen Stellen verteil hat. Roswitha Kolhoff: „Wir haben eine riesige Dankbarkeit erfahren – für die Hilfsgüter, wie auch von den Familien für die zeitweilige Aufnahme ihrer Kinder bei uns.“
Die letzte Fahrt 2003 dauerte gut 50 Stunden. Die Grenzkontrollen wurden schärfer. Und einmal hatte der Busfahrer eine Frau vergessen. Das alles waren Gründe, die Roswitha Kolhoff zu der Entscheidung veranlasst haben, diese Verantwortung nicht mehr zu übernehmen. 2003 lief schließlich auch das Projekt der Tschernobyl-Kinder aus. Es waren nur noch 17 Kinder zu Gast, auch weil es immer weniger Gastfamilien gab, die sie hätten aufnehmen können. Was bleibt, sind unlöschbare Erinnerungen und Freundschaften fürs Leben.